Liebe Leser*innen,
Ich komme gerade zurück aus Strassburg. Dort tagt vierteljährlich das Ministerkomitee des Europarates, um die Umsetzung von Entscheiden des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu überwachen. Zuvor finden informelle Briefings zu besonders wichtigen Fällen statt. Nun konnten wir erstmals selbst an einem solchen Treffen sprechen – über die Umsetzung des Entscheids «KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz». Am gleichen Hearing stand noch ein zweiter Schweizer Fall an, was sehr ungewöhnlich ist: Der «Fall Caster Semenya gegen die Schweiz». Die intergeschlechtliche Mittelstreckenläuferin, die von ihrem Leichtathletikverband dazu gezwungen wurde, ihren natürlichen Testosteronspiegel künstlich zu senken.
Für mich war es spannend, diese beiden Fälle nebeneinander zu diskutieren, denn in einem Punkt sind sie sehr unterschiedlich, in einem anderen sehr ähnlich. Unterschiedlich sind sie bezüglich der Grösse des Personenkreises, die sie unmittelbar betreffen. Gemeinsam ist den beiden Fällen aber, dass sie Probleme ins Licht rücken, die uns alle angehen. Bei den KlimaSeniorinnen ist das die Frage, wie Staaten ihren fairen Beitrag gegen den Klimawandel leisten, der viele unserer Rechte gefährdet. Bei Caster Semenya hingegen lautet die Frage, wie ein Spektrum wie das Geschlecht in ein binäres System passt, das lediglich die Kategorien «Frau» und «Mann» kennt. Hier ging es um das System Spitzensport, aber die Frage ist übertragbar auf viele andere Systeme.
Dass Menschenrechte anhand von Einzelfällen eine Debatte zu breiteren Problemen erzwingen und zu ihrer Lösung beitragen können, ist eine ihrer versteckten Superkräfte.
Doch diese Stärke steht stark unter Druck. Neun Mitgliedstaaten des Europarates haben einen offenen Brief veröffentlicht, mit dem sie die Gestaltungskraft des EGMR zurückdrängen wollen. In der Schweiz gibt es politische Vorstösse, sich dem Brief anzuschliessen. Die ENNHRI, die Dachorganisation der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen in Europa hat auf den Brief reagiert. Sie hat betont, dass Menschenrechte nicht nur einzelne Menschen schützen, sondern auch eine Säule sind, auf der Demokratie, Frieden und Rechtstaatlichkeit ruhen.